Nachdem ich durch das fröhliche, chaotische Schreiben der ersten Übung hoffentlich ganz locker und entspannt bin und sich der Knoten im Kopf auch langsam auflöst, darf es langsam mal etwas konkreter werden.
Ich will überprüfen, ob ich meine Fabulierfreude wirklich wiedergefunden habe. Dieser Test lässt sich wunderbar in die momentane Planungsphase der Kurzgeschichte einbinden, indem ich ihn mit einer Übung kombiniere, die mir helfen soll, dass ich in einer Szene nicht nur erzähle, was ich sehe, sondern ganz genau beschreibe:
- Was höre ich?
- Was rieche ich?
- Was spüre ich?
- Was schmecke ich?
Das heißt: Ich muss mir bewusst machen, dass es noch andere Sinne gibt, die nicht vernachlässigt werden wollen. Vor allem, weil ich dem Leser schließlich eine lebendige Szene zeigen möchte und kein eindimemsionales Bild.
Für meine geplante Kurzgeschichte schwebt mir eine Szene vor, in der meine Protagonistin zum ersten Mal einen Tempel betritt. Sie öffnet die Pforte und
- sie spürt kalten Stein unter ihren nackten Füßen, er ist rau und die Platten sind unregelmäßig geformt
- sie ertastet mit dem Zehen die Ritzen zwischen den einzelnen Steinplatten
- sie riecht Räucherwerk
- der Vorraum wird nur von einem schwachen Öllämpchen erhellt und ihr Blick fällt auf einen Vorhang
Daraus haben sich dann spontan noch einige andere Fragen ergeben:
- Wie sehen die Falten des Vorhanges aus?
- Wird er durch einen Luftzug bewegt oder schiebt ihn jemdand beiseite? Fühlt sie den Luftzug auf ihrer Haut?
- Hört meine Protagonistin Gesänge? Oder ist es viel zu still?
- Ändert sich der Bodenbelag oder gibt es Götterbilder oder Statuen zu sehen?
- Welche Farben gibt es im Tempel?
- Sind noch andere Personen anwesend?
Für diese Übung lasse ich mir besonders viel Zeit und schreibe peinlich genau alles auf, was mit den unterschiedliche Sinne erfasst werden könnte. Mir hilft es immer, wenn ich die Augen schließe und alles um mich herum wirklich, wirklich, wirklich ruhig ist. Auch ein heißes Bad oder ein langer Spaziergang im Wald helfen mir, mich gedanklich in die Details einer fiktiven Umgebung zu versetzen.
Sollte es aber dennoch Probleme geben, hilft es mir manchmal, wenn ich ganz einfach einen alltäglichen Vorgang gaaaaanz genau unter die Lupe nehme und beschreibe. Wie wär’s z.B. mit Kaffee kochen? Da gibt es eine Menge Kleinigkeiten zu entdecken und es schärft meine Vorstellungskraft, damit ich bei einer fiktiven Szene auch wirklich alle Sinne berücksichtige und dem Leser zeigen kann, was es alles zu entdecken gibt.
Und das ist das Ergebnis (das ich so nicht unbedingt in die Kurzgeschichte übernehme, mir aber schon mal ein Gefühl für die Umgebung und die Grundstimmung gibt. Ich schreibe diese ersten Eindrücke gerne aus der Ich-Perspektive, weil es mir dann leichter fällt, mich in die Szene hineinzuversetzten; das bedeutet nicht, dass die fertige Kurzgeschichte auch aus der Ich-Perspektive geschrieben sein muss.):
„Die Mittagssonne heizte die Erde auf. Vor dem Tempel angekommen, zog ich meine Sandalen aus und stellte sie sorgfältig in das dafür vorgesehene Regal. Die schwarzen Bodensteine vor dem Eingang glühten und schienen meine nackten Fußssohlen zu verbrennen. Hüpfend, um das Brennen etwas erträglicher zu machen, erreichte ich die Pforte und öffnete sie. Das Knarren der Eichentüren hallte durch den Vorraum, der mich mit angenehmer Kühle begrüßte. Der Duft von Räucherwerk hing in der Luft … (usw.)“